Matthias Rudolph
Der kleine Anarch
Collagenserien
Die Geschichte der Begegnung zwischen dem Bild und dem geschriebenen Wort reicht tief in das Mittelalter zurück und weist eine lebhafte Auf- und Ab-Bewegung durch die Epochen auf. Die Manuskripte der Bibel, Evangeliare, Liederhandschriften kennt Bilder des thronenden Gottes, der Evangelisten, aus dem Leben Jesu und Mariens, die vielfältig mit Spruchbändern versehen sind, die das inhaltliche Verständnis des Dargestellten apostrophieren. Spätestens die Stundenbücher zum täglichen Gebet sind ab dem 14. Jahrhundert Träger von regelrechten Bildzyklen, die der strukturierten Nutzung des Buchs zugutekommen und seinen künstlerischen Wert steigern.
Das Bild wird größer, selbständiger und mit der Zeit setzt sich seine Unabhängigkeit von der Ausstaffierung mit textlichen Erläuterungen durch. Die autonome Wirklichkeit der dargestellten Szenerie erhöht die Illusion, das Dargestellte stehe auf einer erhöhten Stufe mit dem realiter Erlebten. Vermittelndes Wort entfällt.
Indes: die Idee, Wort und Wortfolge zu einer gleichsam visuell wirksamen Figur zu formen, nimmt spätestens mit Hrabanus Maurus (um 780-856) und seinen Gedichten zum Kreuz ihren Lauf.
So sind es mannigfaltige Aspekte, die der intensiven Belebung der Bild-Wort-Begegnung im 20. Jahrhundert vorausgehen. Dada und der Surrealismus sind erpicht darauf, aus der Nachbarschaft und Berührung zwischen Wort, Wortfigur, Bild und kommentiertem Bild ein zunehmend bewegliches Spektrum von les- und betrachtbarer Botschaft zu entwickeln. Und nicht zu unterschätzen: das Plakat und die Anzeige gewinnen an Bedeutung, speisen sich aus der Kategorie des Titelbildes im Buch, um zu eindringlichen Visualisierungen von Ankündigungen und Aufforderungen zu gelangen.
Matthias Rudolph ist ein Künstler, der die hier skizzierten Entwicklungen kennt, und speziell auf Dada und den Surrealismus ausgerichtet neue Spielarten in seinem Oeuvre entfaltet.
Nach reinen Bildcollagen, zu denen die Collagenromane Max Ernsts eine wichtige Anregung gaben, ist es in jüngster Zeit die Verbindung zwischen Text-Ausschnitten aus Buchseiten und alten „Allerwelts“-Fotografien, die er bearbeitet. Dabei reizt ihn das Suchen und Auflesen alter Materialien. Nicht, dass er Picasso oder Kurt Schwitters ähnlich, ein Stückchen Wort in eine Malerei oder Zeichnung aus eigener Hand einfügt, vielmehr vertraut Rudolph den objets trouves zur Gänze. Sie sollen ungestört durch sein Eingreifen mit Pinsel und Stift ihre gewachsene Patina behalten. Sein Zutun geschieht durch Gedanke und Schere und etwas Klebstoff. Gedanklich gesteuert ist das Zusammenlesen. Und das Zusammenfügen von tendenziell Belanglosem zu einer Mischung, die es „in sich hat“; die im Kontrast von heterogenen Einzelheiten im Bild wie im Textausschnitt, eine gezielt kalkulierten Zweiklang anstimmen. Der kann etwas erkennbar Harmonisches hervorbringen, er kann, und soll, aber auch im anderen Fall eine Dissonanz bewirken, die als solche bewusst wirksam werden soll.
Rudolph agiert im Sinne der Metamorphose, der erstaunlichen Verwandlung einer Voraussetzung in ihre Ableitung. Er fokussiert sich noch spezieller auf die Collage, die den Konter will und der Selbstständigkeit des Zwiefachen, ja Zwiespältigen den Reiz der offenen Resonanz zuschreibt.
Auf diese Weise konfiguriert Rudolph seine Bild-Text-Serien. Sie leben von der Mixtur aus formalen und gedanklichen Leitmotiven, die jeweils spezifisch in einer dieser Serien ausgeführt werden. Da sind oberflächliche Aspekte der Bildkomposition: Die Diagonale, die Figur im Lot, das Kreisrunde, da sind aber auch Wesensmerkmale: die isolierte menschliche Figur, der immer eine und selbe Kopf einer auf straff-sterile Exaktheit getrimmten Männerbüste, der Worte mit Hinweis auf ihr soziales (Miss)-Verhalten über die Augen geklebt sind. Oder der eine Dackel, der penetrant rapportiert und per einzelne zugesetzte Worte IST DAS SO? auf existentielle Substanz hin befragt wird.
Matthias Rudolph hat fachliche Auseinandersetzung mit der Psychologie ebenso als Rüstzeug im Gepäck wie vielfältige Erfahrung als Kreativ-Direktor in Agenturen. Das macht ihn erfahren in der Möglichkeit, Phänomene des menschlichen Verhaltens und seiner Bedürfnisse zu pointieren und mit Aussagen über die Medien von Bild und Wort zu erfassen und zu steuern.
Diese Fähigkeiten moduliert er in seiner künstlerischen Tätigkeit zu zweckfreien innovativen Konstellationen, die das Assoziationsvermögen des Rezipienten herausfordern.
Ihre geistige und handwerkliche, ihre kompositorische Machart ist verblüffend. Und wird markant unterstützt durch das quasi Erzählerische, das sich aus der Verwendung von Buch-Materialien gleichsam inzidenter einschleicht. So wird das fortlaufende der Einzelgefüge stärker prononciert, ja eine Art story board entsteht, eine fließende Bewegung, der zu folgen so wenig einfach wie sehr reizvoll erscheint.
Der kleine Anarch – das ist nicht nur der Titel einer Serie, es ist natürlich die spielerische Umschreibung des Autors Rudolph seiner selbst; ist aber zudem die Einbeziehung der und des von ihm Angesprochenen, die sich unweigerlich in ein Gewahrwerden ihres eignen Ich eingesaugt finden. Ich ist ein Anderer – die berühmte Formel des Arthur Rimbaud (1871) wirkt nach. Rudolph schreibt dafür eine bildreiche Fortsetzung der Geschichte der Begegnungen zwischen dem Wort und dem Bild.
Stefan Soltek
Kunsthistoriker
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Klingspor Museum